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Zum Selbstverständnis der Informatik

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Rüdiger Valk

Das Interesse an der Frage "Was ist Informatik ?" hat nicht von seiner
Aktualität eingebüßt und schlägt sich in Veranstaltungen des Fachbereichs
im Wintersemester 93/94 nieder: ein Seminar zum Thema "Selbstverständnis
der Informatik" und ein Kolloquiumsvortrag "About the Nature of Computer
Science" von Juris Hartmanis.

In drei Äußerungen aus den Jahren 1989/90 tritt die Polarisierung der
Diskussion scharf hervor. Für Dijkstra lautet die eindeutige Antwort auf
die selbstgestellte Frage, wo die Informatik (bei ihm "computing science")
auf der Weltkarte der intellektuellen Disziplinen liege, "... in the
direction of formal mathematics and logic ..." [1], wogegen Parnas meint,
"Computing professionals are engineers and should be educated as such" [2],
während Coy schließlich schreibt, Äufgabe der Informatik ist also die
Analyse von Arbeitsprozessen und ihre konstruktive maschinelle
Unterstützung." [3]

Wenn also von Informatik die Rede ist, können (mindestens) drei
unterschiedliche Bedeutungen vorliegen:

- Informatik als Wissenschaft,
- Informatik in Industrie und Wirtschaft und
- Informatik als Ausbildungsgebiet.

Natürlich gibt es wichtige Wechselwirkungen zwischen diesen Bereichen.
Informatikforschung wird beeinflußt von der industriellen Produktion und
dem Einsatz von Forschungsergebnissen in der Industrie. Letztere hängt von
der wissenschaftlichen Forschung ab, und das Studium in Informatik
orientiert sich sowohl an Entwicklungen der Forschung als auch an
Notwendigkeiten des Berufsbildes von Informatikern. Wie später deutlich
werden wird, ist es jedoch wichtig, die jeweils gemeinte Bedeutung
offenzulegen.

Viele lebendige Wissenschaften können nicht eindeutig erklären, wo ihre
Fundamente liegen und was ihr Gegenstand ist. Trotzdem ist die Frage nach
dem (Selbst-)Verständnis erheblich, da sie die Entwicklung des ganzen
Gebietes in Forschung und Lehre beeinflußt.

Sowohl in Europa als auch in den USA wird seit dem Aufkommen von Computern
eine heftige Debatte über das Wesen der Informatik geführt, insbesondere
seit das Fixieren von Studieninhalten eindeutige Stellungnahme erforderte.
Die Diskussion über Curricula hat innerhalb der ACM zur Einsetzung einer
Kommission "Task Force on the Core of Computer Science" geführt, die 1989
ihren Bericht veröffentlichte. [4]

Nach diesem Bericht basiert Informatik als Wissenschaft (computer science)
hauptsächlich auf drei Methoden (cultural styles): Theorie, Abstraktion und
Design. Jede dieser Methoden gliedert sich - grob gesehen - in folgende
Schritte:

Theorie :

  1. isoliere und definiere die zu untersuchenden Objekte (Definition)
  2. postuliere mögliche Beziehungen unter ihnen (Theorem)
  3. bestimme, ob die Beziehungen gelten (Beweis)

Abstraktion :

  1. bilde eine Modellhypothese
  2. konstruiere ein Modell und formuliere zu erwartendes Verhalten
  3. entwerfe ein Experiment und sammle Beobachtungen
  4. analysiere die Ergebnisse

Design :

  1. formuliere die Anforderungen
  2. formuliere Spezifikationen
  3. entwerfe und implementiere das System
  4. teste das System

Diese Schritte sind nach Bedarf zu iterieren. Der Bericht erläutert diesen
Strukturvorschlag sehr viel ausführlicher, als dies hier wiedergegeben
werden kann. Mir ist jedoch wichtig hervorzuheben, daß die genannten drei
Methoden orthogonal zu den inhaltlichen Gebieten der Informatik verstanden
werden (dort als (1) Algorithmen und Datenstrukturen, (2)
Programmiersprachen, (3) Rechnerarchitektur, (4) numerisches und
symbolisches Rechnen, (5) Betriebssysteme, (6) Software-Methodologie
und -Technik, (7) Datenbanken und Informationsverarbeitung, (8)
Künstliche Intelligenz und Robotik, (9) Mensch-Maschine-Interaktion
bezeichnet). Das heißt, Theorie, Abstraktion und Design unterliegen jedem
dieser neun Gebiete. Das Strukturschema erlaubt aber auch, daß z.B. der
Arbeitsbereich "Theoretische Grundlagen der Informatik" neben der Methode
"Theorie" auch mit "Abstraktion" arbeitet. Ein Versuch, diese Gebiete auf di
e Schwerpunkte des Fachbereiches abzubilden (Schwerpunkt I:
(1),(2),(3),(5),(7); Schwerpunkt II: (4),(8); Schwerpunkt III: (3),(4);
Schwerpunkt IV: (6),(9)), ergibt insbesondere, daß "Informatik-Anwendungen"
nicht vorkommen.

Der Bericht erläutert die vorgenommenen Strukturvorschläge ausführlich.
Hier sei noch der Versuch der Kommission einer (Kurz-)Definition von
Informatik als Wissenschaft wiedergegeben: Informatik als Wissenschaft (the
discipline of computing) ist das systematische Studium von
informationsbeschreibenden und -transformierenden, algorithmischen
Prozessen: deren Theorie, Analyse, Entwurf, Effizienz, Implementation und
Anwendung. Die fundamental zugrundeliegende Problemstellung lautet: "Was
kann (effizient) automatisiert werden?".

Denning ließ dem Bericht der "Task Force", dessen Vorsitzender er war,
einen Artikel folgen, in dem er die Grenzen ausschließlich formaler
Methoden in der Informatik erörtert.[5] Er verweist zunächst mit Bezug auf
Dijkstra und Gries [6] auf die Erfolge formaler Techniken zur Spezifikation
und Verifikation, um dann mit Brooks [7] festzustellen, daß das Problem der
Softwareerstellung gerade in der Findung exakter Spezifikationen bestehe,
daß diese sich ständig ändern, daß es schwer oder unmöglich sei, sich über
formale Spezifikationen mit Nutzern zu verständigen und viele andere oft
beschriebene verwandte Probleme. [8]

Zur Lösung des Problems macht Denning auf die "Skandinavische Schule" mit
Kirsten Nygaard als Vertreter aufmerksam. Die schon von Brooks beschriebene
inhärente Komplexität von Anwendungssoftware spiegelt aus Sicht der
Skandinavier die Komplexität der alltäglichen Arbeitsumgebung des Nutzers
wider und ist nur durch intensives Verständnis dieser Umgebung zu meistern.
Nygaards "Programmieren heißt verstehen!" reklamiert die neue Methode:
Programmieren ist soziale Tätigkeit. Nach Floyd [9] verschiebt sich das
Verständnis des Programmierens von Problemlösungsauftrag und
Software-Produktion zu einem konstruktiven Prozeß, der unverzichtbar vom
situativen Verständnis und der Perspektive des Nutzers und seiner Realität
abhängt. Konsequenterweise bezieht sich Floyd erkenntnistheoretisch auf den
Konstruktivismus [10], der alle kognitiven Fähigkeiten des Menschen aus
seiner biologisch evolutionären Natur herleitet. Der Konstruktivismus
leugnet letztendlich eine vom Beobachter losgelöste Realität und läßt nur
subjektive Perspektiven von Individuen oder Sozietäten zu.[11]

Übertragen auf die Tätigkeit des Informatikers heißt dies doch, daß er im
Idealfall bei der Gestaltung von Anwendersystemen nur dann verantwortlich
handeln kann, wenn er gänzlich die Realitätsperspektive des Nutzers oder
der Nutzergemeinschaft erkennen und einnehmen kann. Da es kein rationales
Kriterium dafür gibt, wann er diese Perspektive erreicht hat, ist diese
Auffassung gesellschaftlich problematisch. Wie bei einer, zu recht
kritisierten, technozentrierten Sicht wird der Nutzer entmündigt: der
Informatiker, der die Gestaltungsmöglichkeiten von Informatiksystemen in
der Hand hat, übernimmt nun auch noch die Nutzersicht und wird zur
allmächtigen Instanz.

Ich möchte hier zur Verdeutlichung den Informatiker mit dem Juristen
vergleichen, der als Rechtsanwalt, Richter oder Berater tätig ist. [12] Wie
der Informatiker beherrscht er ein quasi formales System (die Gesetze sowie
ihre Auslegung und Anwendung), das normativ soziale Bezüge gestaltet.
Obwohl ein Rechtsanwalt möglichst anschaulich die Lage seines Mandanten
kennen sollte, ist er immer nur dessen Interessenvertreter. Er kann sich
nie an dessen Stelle setzen, geschweige denn statt seiner entscheiden. Er
muß ihm vielmehr die Techniken des formalen Systems (z.B. Gesetz und
Prozeß) und die Konsequenzen einzelner Schritte erläutern. Ebenso hat der
Jurist den Parlamentarier bei der Gesetzgebung zu beraten. Gesetze
allerdings kann nur der Gesetzgeber nach verfassungsrechtlich genau
festgelegten Prozeduren beschließen.

So wie der Jurist primär in den Mechanismen von Recht und Gesetz
auszubilden ist und geradezu darin trainiert wird, die Abbildung der Gesetze
slage auf die Realität in gewissen Grenzen schematisch anzuwenden, so hat
der Informatiker zunächst in den Gestaltungsfreiheiten von
Informatiksystemen kompetent und zudem in der Lage zu sein, den
Beratungsdialog mit dem Nutzer adäquat führen zu können.

Der Ansatz der partizipatorischen Systementwicklung ist verständlich als
Gegenpol zu einem zur Zeit noch übermächtigen, technikzentrierten Denken
und so als alternativer Ansatz für ein Softwareentwicklungsmodell
fruchtbar. Letztendlich muß sich der Informatiker jedoch auf einer der
Seiten eines Dialogs zwischen formalisierender Gestaltung einerseits und
realitätsbezogener Anwendung andererseits sehen. Die eingangs gegebenen
Zitate von Dijkstra und Coy lassen sich nun einordnen: Aufgabe der
Informatik kann also nicht die Analyse von Arbeitsprozessen sein. Vielmehr
ist dies die Aufgabe von Betriebswirten oder Arbeitswissenschaftlern.
Informatiker erarbeiten dafür in Vernetzung mit diesen Anwendungsfeldern
Techniken, die zur Gestaltung von Arbeitsprozessen führen. Die
Verantwortung des Informatikers liegt darin, solche Techniken auf hohem
Qualtätsniveau anzubieten, z.B. in Bezug auf Transparenz, Flexibilität,
Beschreibung und Korrektheit. So gesehen beschreibt Dijkstra korrekt, wo
die primäre Kompetenz des Informatikers liegt, nämlich in der Perspektive
von formaler Mathematik und Logik (oder den entsprechenden Surrogaten in
der Informatik). Auch die Mahnung von Parnas ist ernstzunehmen,
Informatiksysteme unter dem Qualitätsanspruch von Ingenieurswissenschaften
zu sehen, d.h. in Hinblick auf Zuverlässigkeit, Ausfallsicherheit,
Änderbarkeit, Transparenz, Effizienz in Hinblick auf Leistung und Resourcen
usw.).

In der vierzigjährigen Geschichte der Rechnerentwicklung wurden immer neue
Anwendungsgebiete erschlossen, und ein Ende dieser Entwicklung ist nicht
abzusehen. Jedes Anwendungsgebiet hat eigene Charakteristika und
spezifische Probleme, an deren Lösung die Informatik mitgewirkt hat und die
umgekehrt auch ihre eigene Entwicklung beeinflußt haben. Allerdings
entwickeln Anwendungsgebiete in der Regel nach einiger Zeit eine eigene
Kompetenz in informatischen Fragen und verfolgen die Hard- und
Softwareentwicklung nur in Hinblick auf ihre spezifischen Bedürfnisse.
Obwohl es dann weiterhin noch Personen geben kann (und geben sollte), die
in doppelter Kompetenz in beiden Gebieten zu Hause sind, so kann dies nicht
für die Hauptströmung der Informatik gelten - aus dem einfachen Grund, weil
nur eine gewisse Zahl von Randgebieten signifikant innerhalb der Informatik
vertreten werden kann.

Für die Informatik kommt es also darauf an, zeitlich begrenzt mit
Anwendungsgebieten zu kooperieren, sich dort aber nicht in fachlichen
Spezifika zu verlieren. Vermutlich ist dies gerade der Grund für das Fehlen
von Anwendungen im ACM-Bericht und nicht unbedingt "ein Mangel an
verstandener und praktisch relevanter Theorie der Informatik", wie
vollmundig im sogenannten "Theoriekreis" geargwöhnt wird.[13] Dennoch steht
dies nicht im Widerspruch dazu, daß Anwendungsgebiete exemplarisch an
Informatik-Fachbereichen vertreten sind.

Das Wort "Informatik" geht auf eine Definition von "informatique" der
Académie Française als "traîtement rationnel de l'information" (Behandlung
von Information mit rationalen Mitteln) zurück. Der Begriff der rationalen
Methode ist in der Philosophie von René Descartes zentral verankert. Diese
sollte bei jeglicher wissenschaftlicher Forschung Anwendung finden. Sie
schreibt vor [14] ,

a) nur dasjenige ist als wahr anzunehmen, was der Vernunft so klar ist, daß
jeglicher Zweifel ausgeschlossen bleibt;
b) größere Probleme in kleinere aufzuspalten;
c) immer vom Einfachen zum Zusammengesetzten hin zu argumentieren und
d) das Werk einer abschließenden Prüfung zu unterwerfen.

Diese Methode der rationalen Vernunft wurde zur Grundlage der modernen
Naturwissenschaften, die das theoretische Wissen in mathematische Form
bringt und mit Hilfe kontrollierter Experimente prüft. Max Weber zeigt, wie
letztendlich alle Bereiche unseres kulturellen Schaffens von einem Prinzip
durchdrungen sind, das er den 'okzidentalen Rationalismus' nennt [15].
Habermas hat sich in seiner Theorie des kommunikativen Handelns [16]
intensiv mit Max Weber auseinandergesetzt und den Begriff des rationalen
Handelns weiterentwickelt. Schon 1987 habe ich darauf hingewiesen, daß der
von Habermas gebildete Begriff der kommunikativen Rationalität in der
Informatik eine besondere Aktualität gewonnen hat [17].

Rational sein können einerseits Personen, die über Wissen verfügen, zum
anderen Äußerungen, Handlungen und Handlungsbeschreibungen, die Wissen
verkörpern [16]. Die Rationalität einer Äußerung hängt von der
Zuverlässigkeit des in ihr verkörperten Wissens ab. So wie die Wahrheit
einer fehlbares Wissen wiedergebenden Aussage begründbar zu sein hat,
genauso muß der Erfolg einer zielgerichteten Handlung feststellbar sein.
Beides, Begründbarkeit von Wissen und Feststellbarkeit von Erfolg, setzt
einen Bezug zur objektiven Welt voraus, d.h. einen Tatsachenbezug, der
einer objektiven Beurteilung zugänglich ist. Objektiv kann eine Beurteilung
dann sein, wenn sie anhand eines Geltungsanspruches vorgenommen wird, der
für beliebige Beobachter und Adressaten dieselbe Bedeutung hat wie für das
jeweils handelnde Subjekt selbst.

Objektivität gewinnt die (reale) Welt erst dadurch, daß sie für eine
Gemeinschaft sprach- und handlungsfähiger Subjekte als ein und dieselbe
Welt gilt. Notwendige Bedingung dafür ist, daß sich kommunikativ handelnde
Subjekte miteinander über das verständigen, was in der Welt vorkommt oder
in ihr bewirkt werden soll. Habermas spricht daher von kommunikativer
Rationalität.

Der Begriff kommunikative Rationalität wird deutlicher, wenn man ihn auch
auf das Vorgehen der modernen (Natur-)Wissenschaften bezieht. Diese streben
danach, ihr Wissen in ausschließlich deduktiven Systemen zu formulieren,
ihr Handeln auf von der objektiven Welt abgetrennte Ziele zu richten, ein
Vorgehen, das als kognitiv-instrumentelle Rationalität bezeichnet wird [16]
.

Informatiker und Anwender müssen folglich als kommunikativ handelnde
Subjekte eine gemeinsame und damit für sie objektive Realität erreichen, um
ein Informatiksystem zu erstellen, das rational hinterfragbare
Qualitätsmerkmale aufweist. Einbezogen in diese Kommunikation können
Softwareprototypen werden, die abschnittweise mit den traditionellen
Werkzeugen des Informatikers (basierend auf kognitiv-instrumenteller
Rationalität) vom Informatiker quasi als Gesprächshypothesen vorgeschlagen
werden.

Der entscheidende Gedanke von Habermas ist, daß die Regeln des sprachlichen
Handelns selbst zum Thema des Gesprächs gemacht werden können. In der
Sprache von Habermas verläßt man so die Ebene des kommunikativen Handelns
und führt einen "Diskurs". Diskurse werden von Habermas auch explizit
zwischen den Wissenschaften oder verschiedenen Expertenkulturen gefordert,
wenn sich ihre Denk- und Begriffswelten krisenhaft auseinanderentwickeln.
Die Theorie des kommunikativen Handelns deckt schließlich die Gefährdung
der Lebenswelt durch die verselbstständigten "Systeme" auf, ein besonderes
Gefahrenpotential gerade der Informatik. Diskurse kommen nur zustande, wo
es keine selbstverständliche Übereinstimmung mehr gibt, also eine
Problematik, die häufig im Verhältnis von Softwareproduzent und -konsument
beschrieben worden ist.

Rückblickend auf die in dem ACM-Bericht vorgeschlagene und zu einzelnen
Gebieten der Informatik orthogonalen Methodendreiheit von Theorie,
Abstraktion und Design wird erkennbar, daß auch unter Einbeziehung der
Diskussion über das Verhältnis von Informatikern und Anwendern diese
Einteilung weiterhin sinnvoll ist. Gleichwohl ist die inhaltliche
Beschreibung von Design deutlich zu erweitern (Rolf [18] und Floyd [19]
übertragen "Design" gerne in "Gestalten.")

Eine große Menge des Stoffes heutiger Informatik-Curricula ist durchaus
zeitgebunden. Er wird vorwiegend durch das Berufsbild des Informatikers
bestimmt, das natürlich stark von der gerade verfügbaren Technologie
abhängt. Daher ist es interessant zu untersuchen, ob es in der Informatik
als Wissenschaft sozioinvariante "ewige" Wahrheiten gibt, wie dies etwa für
die Naturwissenschaften gilt. Ein "Es gibt keine Informatik als
Wissenschaft unabhängig von uns !" [20] ist nur in einem sehr allgemeinen
Kontext einer Philosophie der Subjektivität [21] (bzw. im oben ausgeführten
Begriff der kommunikativen Rationalität) vertretbar. Eine solche
Subjektivität besteht in allen Bereichen, und das Ziel von Kommunikation,
insbesondere innerhalb von Wissenschaft, besteht gerade in ihrer
Überwindung.

Jozef Gruska, der im Berichtsjahr eine dreijährige Gastprofessur am
Fachbereich beendete, hat dazu ausführlich Stellung genommen.[22] Ein
Kriterium für die Emanzipation einer werdenden Wissenschaft stellt z.B.
ihre Fähigkeit dar, durch theoretische Untersuchungen Voraussagen zu
machen, die später durch Experimente bestätigt werden. Ein prominenter
Vertreter ist die moderne Physik.

Als Beispiel aus der Informatik greift Gruska das Phänomen auf, daß die
seit mindestens zwanzig Jahren angekündigte breite Ablösung von
sequentiellen Rechnern durch einen parallelen Typ bisher ausgeblieben ist.
Dies erklärt sich dadurch, daß durch das abstrakte von Neumann'sche
Rechnerarchitektur-Modell eine Trennung der "chaotischen" Hardwareindustrie
von der "chaotischen" Softwareindustrie gelang, die beiden Industrien
erlaubte, sich unabhängig voneinander äußerst schnell zu entwickeln (und
dadurch Vorteile von Parallelrechnern immer wieder zu kompensieren
vermochte). Eine wichtige Frage ist daher, ob es für Parallelrechner
entsprechende universelle Modelle gibt, die die Hard- und Softwarewelt zu
separieren in der Lage sind. Die Diskussion der Antwort auf der Basis des
Berechenbarkeitsmodells der PRAM (Parallel Random Access Machine) ist es
wert, nachgezulesen zu werden, würde hier jedoch zu weit führen [23] .

Wie oben dargestellt, beruhen moderne Wissenschaften auf theoretischer und
experimenteller Methodologie. Gruska führt aus, daß ein fundamental neuer
Beitrag der Informatik für die Wissenschaftswelt eine zusätzliche
Methodologie der Berechnung sein könnte. Als bisher erkennbare Gebiete
führt er auf: Simulation, Visualisierung, symbolisches Rechnen,
Algorithmisierung, Beschreibungstechniken, das Studium inhärenter
Komplexität und der Entwurf von Informationsverarbeitungsmodellen.

Auch innerhalb der Informatik gilt, daß über theoretische Erkenntnisse
hinaus der tatsächliche Bau komplexer Systeme zu neuen Erkenntnissen
geführt hat. So handelt es sich um prinzipiell unterschiedliche Qualitäten,
informatische Konzepte, wie z.B. applikative, funktionale oder logische
Programmiersprachen, Betriebssysteme, Datenbanken und wissensbasierte
Systeme einerseits theoretisch zu fundieren und andererseits praktisch und
ingenieursmäßig zu bauen. Milner [24] weist daraufhin, daß so der Prototyp
in der Informatik eine ähnliche Rolle spielt wie das Experiment in den
Naturwissenschaften, ein Gedanke, den auch Hartmanis in seinem eingangs
erwähnten Vortrag verfolgt.



1 Dijkstra, E.W.: On the Cruelty of Really Teaching Computing Science.
Comm. of the ACM 32, 1398-1404 (1989)
2 Parnas, D.L.: Education for Computing Professionals. IEEE Computer 23:1,
17-22 (1990)
3 Coy, W.: Brauchen wir eine Theorie der Informatik? Informatik Spektrum
12:5, 256-266 (1989)
4 Denning, P.J. et al.: Computing as a Discipline. Comm. of the ACM 32,
9-23 (1989)
5 Denning,P.J.: Beyond Formalism. American Scientist 79, pp. 8-10 (1991)
6 Gries, D.: Calculation and Discrimination: A more Effective Curriculum.
Comm. of the ACM 34:3, 45-55 (1991)
7 Brooks, F.P.: No Silver Bullet - Essence and Accidents of Software
Engineering. IEEE Computer 20:4, 10-19 (1987)
8 vergl. auch Valk, R.: Der Computer als Herausforderung an die menschliche
Rationalität, Informatik-Spektrum 10, 57-66 (1987)
9 Floyd, Ch.: Human Questions in Computer Science. In: Floyd, Ch.,
Züllinghoven, H., Budde, R., Keil-Slawik, R.: Software Development and
Reality Construction, Springer, Berlin, 15-30 (1992)
10 Bateson, G.: Mind and Nature - a Necessary Unity. New York, Bantam Books 1979
11 Floyd, Ch.: Software Development as Reality Construction. In: Floyd,
Ch., Züllinghoven, H., Budde, R., Keil-Slawik, R.: Software Development and
Reality Construction, Springer, Berlin, 15-30 (1992)
12 Rolf schlägt in diesem Sinn als Leitbild den Architekten vor. In: Rolf,
A.: Sichtwechsel, Informatik als Gestaltungwissenschaft; in: Coy, W.: Für
eine Theorie der Informatik ; in: Coy, W. et al. (Hrsg.): Sichtweisen der
Informatik, Vieweg, Braunschweig, 17-32 (1992)
13 Coy, W.: Für eine Theorie der Informatik ; in: Coy, W. et al. (Hrsg.):
Sichtweisen der Informatik, Vieweg, Braunschweig, 17-32 (1992)
14 Davis, Ph., Hersh, R.: Descartes' Traum, Krüger Verlag, 1988
15 Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen 1963
16 Habermas, J.: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt a.M.,
Suhrkamp 1981
17 Valk, R.: Der Computer als Herausforderung an die menschliche
Rationalität, Informatik-Spektrum 10, 57-66 (1987)
18 Rolf, A.: Sichtwechsel, Informatik als Gestaltungswissenmschaft; in:
Coy, W.: Für eine Theorie der Informatik; in: Coy, W. et al. (Hrsg.):
Sichtweisen der Informatik, Vieweg, Braunschweig, 17-32 (1992)
19 Floyd, Ch.: Software Development as Reality Construktion; in: Floyd,
Ch., Züllinghoven, H., Budde, R., Keil-Slawik, R.: Software Development and
Reality Construction, Springer, Berlin, 15-30 (1992)
20 Floyd, Ch.: Human Questions in Computer Science. In: Floyd, Ch.,
Züllinghoven, H., Budde, R., Keil-Slawik, R.: Software Development and
Reality Construction, Springer, Berlin, 15-30 (1992)
21 Schulz, W.: Ich und Welt, Philosophie der Subjektivität, Neske Verlag,
Pfullingen 1979
22 Gruska, J.: Why we should no longer only repair, polish and iron current
computer science education; Education & Computing 8, 303-330 (1993)
23 Valiant, L.: A Bridging model for parallel computing; Comm. of the ACM
33:8, 103-111 (1990)
24 Milner, R.: Is computing an experimental science? J. Technology 2, 60-66
(1987)

Last Change: 17:40 05/19/2011
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