Der folgende Artikel stammt aus der Stuttgarter Zeitung vom Montag, 10. Januar 1994, und wurde von A. Pfeiffer geschrieben. Er handelt von dem Blödsinn, für den Bildungspolitiker schon seit langer Zeit verantwortlich sind.
Arbeitslosigkeit von Akademikern ist nicht nur ein Problem der modernen Gesellschaft
,,Vergleicht man die Zahl der Studierenden mit der von den wirklichen Aemtern, und den selbst nach der größten Mortalität berechneten Vakanzen, so bleibt doch keine Hoffnung übrig, all diese jungen Leute oder auch nur den größten Teil derselben, auf eine Art versorgt zu sehen, die mit den vielen Anforderungen, die ihre Vorbereitung kostet, in einigem Verhältnis stände. Ihr Geist wird dadurch niedergedrückt: in den Jahren, wo er am thätigsten sein sollte. Die Aussicht für Studierende in unserem Staat bleibt ungefähr so, wie sie ist: sehr niederschlagend.``
Nichts außer ein paar heute verschroben wirkenden Wendungen und orthographischen Eigentümlichkeiten läßt vermuten, daß diese Worte bereits 1788 niedergeschrieben worden sind. Viel zu modern klingt die Klage über arbeitslose Akademiker und ihre Lage.
Arbeitslosigkeit unter Akademikern ist jedoch keinesfalls ein Phänomen der modernen Gesellschaft. Schon das Mittelalter, in dem gemessen an der niedrigen Bevölkerungszahl weit mehr Menschen eine akademische Ausbildung erhalten haben als heute und in dem eine Studienzeit von fünfzehn Jahren eher die Regel als die Ausnahme war, hatte sein ,,Gelehrtenproletariat``. Zyklisch verläuft die Arbeitslosigkeit der Hochschulabsolventen seit dem späten siebzehnten Jahrhundert; auf Zeiten mit hoher Beschäftigungsrate folgte allgemeiner Stellenmangel.
Schon früh geht die Arbeitslosigkeit unter Akademikern einher mit der Forderung nach Verringerung der Studentenzahlen. Der erste von höchster Stelle formulierte Appell dieser Art kam wohl 1673 vom bayerischen Kurfürsten. Seine Lösungsvorschläge unterscheiden sich nicht von den heutigen, haben aber auch schon damals nichts genutzt: verschärfte Prüfungsordnung, Selektion, Handwerk als Alternative für die nur durchschnittlich Begabten.
Hundert Jahre später, als die Arbeitslosigkeit eine neue Rekordmarke erreicht, folgt eine Flut weiterer Abhandlungen zu demselben Thema: ,,Ueber die besten Mittel, die Studirsucht derer, die zum Studiren keinen Beruf haben zu hemmen`` (1789), ,,Wer soll studieren? `` (1784). Nicht nur die Regierenden bemängelten, ,,daß im ganzen mehr studieren als das unmittelbare Bedürfnis der Anstellung unabweislich verlangt``; auch Hochschullehrer äußern sich: 1771 wurde gar eine akademische Antrittsrede gehalten mit dem Titel ,,Über den Nachteil der vermehrten Universitäten``, die nicht ganz frei von Dünkel ist, scheint der Redner doch zu vergessen, daß er selbst von diesem Umstand ganz erheblich profitiert hat.
Nach den Befreiungskriegen strömten mehr Studenten als je zuvor in die Akademien. Doch die eindringlich vorgetragenen Szenarien der Verelendung der gelehrten Stände wirkten: Die Zahl der Erstsemester ging in der Zeit um 1800 um ein Drittel zurück. Extremer Mangel an Pfarrern, Lehrern und Juristen war die Folge. So riefen die Verantwortlichen wieder munter zur Aufnahme eines Studiums auf, mit der Folge, daß 1820 so viele junge Männer in die Arbeitslosigkeit hineinstudierten wie noch nie. Auf hundert offene Pfarrstellen kamen über dreihundert Bewerber. Um eine Juristenstelle bemühten sich gar fünfzig junge Rechtsgelehrte.
All die abgewiesenen Bewerber mußten in den ungeliebten Beruf des Hauslehrers oder Hofmeisters ausweichen. Zudem nahmen die stellungslosen Absolventen auch Posten an, für die sie eigentlich überqualifiziert waren und für die bis dahin kein Studium, ja nicht einmal eine Ausbildung erforderlich gewesen war. So mancher Jurist verrichtete die anspruchslose Arbeit eines Amtsverwesers.er
Um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen, studierten die jungen Männer immer länger, zögerten, überhaupt ein Studium zu beginnen, so daß das Immatrikulationsalter seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts kontinuierlich auf zwanzigeinhalb stieg. In der Mitte des Jahrhunderts, als die Berufschancen wieder besser wurden, sank auch das Durchschnittsalter.
Interessanterweise kulminiert die Arbeitslosigkeit unter Akademikern und mit ihr das Alter der Studenten oft am Anfang oder am Ende eines Jahrhunderts. Rekordzahlen tauchen stets auf in krisenanfälligen Jahren: um 1800, um 1900 und jetzt, kurz vor der Jahrtausendwende. 1930 gab es rund 150.000 Anwärter auf akademische Berufe. Der jährliche Ersatzbedarf betrug aber gerade einmal 10.000. Das verleitete die Studenten wiederum dazu, lieber mehrere Semester lang zu ,,parken``, als sich endgültig arbeitslos zu melden. Die Bildungspolitiker griffen erneut zu den erprobten, aber doch sehr fragwürdigen Methoden: in dem Erlaß ,,Erziehung zur rechten Berufswahl`` von 1918 wurde das ,,übermäßige Drängen`` der Abiturienten nach dem Universitätsstudium verurteilt und auf ,,die Wichtigkeit`` des Handwerks verwiesen.
So mancher Absolvent mußte sich mittlerweile mit einer Arbeit begnügen, die mit seiner Ausbildung nur wenig zu tun hatte. Der promovierte Kellner ist keine Erfindung der neunziger Jahre; er bediente bereits 1920. Zudem wurden die Bildungsvoraussetzungen für einige Berufe angehoben. Das prominenteste Beispiel hierfür ist die Akademisierung der Volksschullehrerausbildung.
Was zunächst als Möglichkeit gedacht war, die astronomisch hohe Arbeitslosenquote der Lehrer abzubauen, erwies sich als Falle: zwar konnte die erste Generation von studierten Volksschullehrern komplett eingestellt werden, doch zu einer längerfristigen Entspannung kam es nicht. Vielmehr expandierte das höhere Schulwesen: immer mehr Schüler wollten Abitur machen. Dies führte zu einer Entwertung des Abiturs und zu einer Lehrerarbeitslosigkeit, die größer war als zuvor.
Auch heute ist es fraglich, ob durch gezieltere Qualifikation das Heer der Arbeitslosen abgebaut werden kann. Promotion oder die jetzt sehr beliebten Aufbaustudiengänge verzögern nur den Gang zum Arbeitsamt, verhindern ihn aber nicht.